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Die Röchling-Frage – Politischer Zündstoff im Abstimmungskampf 1955

Aktualisiert: vor 3 Tagen

Nach heutiger Einschätzung waren die Propaganda und die Geschehnisse rund um die Röchlinger Stahlwerke sicherlich ein wahlentscheidender Faktor bei der Volksbefragung von 1955, aber kaum jemand spricht darüber...


Völklinger Hüttenarbeiter im Jahre 1955
Völklinger Hüttenarbeiter im Jahre 1955

1. Hintergrund: Röchling und Völklingen als Symbolfigur der Saarindustrie

Die Völklinger Hütte war mehr als ein Stahlwerk – sie war ein Symbol. Seit dem 19. Jahrhundert hatte die Industriellenfamilie Röchling den Standort aufgebaut, modernisiert und zu einem der leistungsfähigsten Eisen- und Stahlproduzenten Europas gemacht. Die Röchlings galten als paternalistische Unternehmer, die nicht nur Arbeitsplätze, sondern auch soziale Einrichtungen, Werkswohnungen und kulturelle Unterstützung für ihre Beschäftigten boten.


Der Zeitungsartikel „Röchling – ein Grenzlandschicksal“ (Allgemeine Zeitung, 10. Dezember 1955) zeichnet dieses Bild bewusst: Der Name Röchling sei untrennbar mit dem Schicksal des Saargebiets verbunden. Die Hütte habe Generationen von Saarländern Arbeit gegeben und ihre technische Qualität sei international anerkannt. Zwischen den Zeilen ist zu spüren: Wer die Röchlings angreift, greift das Selbstverständnis des Saarlands an.


Nach dem Zweiten Weltkrieg stand das Werk unter französischer Sequesterverwaltung. (Rechtliche Bedeutung: Treuhandverwaltung mit Vorbehaltsrechten) Das bedeutete, dass die Eigentümer zwar formal die Besitzer blieben, die tatsächliche Kontrolle jedoch bei einer von den französischen Behörden eingesetzten Verwaltung lag. Damit sollte sichergestellt werden, dass das Unternehmen nur für zivile und wirtschaftliche Zwecke genutzt wird und eine heimliche deutsche Kriegsproduktion verhindert wird.

Propagandistisch hat man "Sequesterverwaltung" mit "Zwangsverwaltung" übersetzt und den Franzosen unterstellt, dass sie diese nutzten, um wirtschaftlichen Einfluss zu sichern und Druck auf die Familie auszuüben.


2. Politische Brisanz im Jahr 1955

Mitten in den Verhandlungen um das Saarstatut – das dem Saarland eine europäische Sonderstellung geben sollte – tauchte die sogenannte „Röchling-Frage“ auf: Sollte das Völklinger Werk in französische Hände gehen?


Hintergrund: Die Pariser Verträge (1954) regelten nicht nur das Verhältnis zwischen Frankreich, der Bundesrepublik Deutschland (BRD) und der NATO, sondern auch das Saarstatut. Frankreich wollte wirtschaftliche Sicherheit – insbesondere im Bereich Kohle und Stahl – und Bonn wollte eine Lösung, die nicht den Beitritt des Saarlandes zur BRD gefährdete. Als Kompromiss kam das europäische Saarabkommen heraus, über das die Saarländer 1955 abstimmen sollten.


In diesem Kontext wurde der Familie Röchling während des Abstimmungskampfes „nahegelegt“, ihre Werke Frankreich und der BRD zum Verkauf anzubieten. Die offizielle Begründung lautete: Politische Verantwortung und übergeordnete Interessen erforderten diesen Schritt – andernfalls gefährde man die deutsch-französischen Annäherungen.


3. Die Rolle Bonns – Druck hinter den Kulissen

Johannes Hoffmann, Ministerpräsident des Saarlandes, äußerte dazu scharfe Kritik: Die Röchling-Lösung sei nicht in Saarbrücken oder Paris, sondern in Bonn in nur 24 Stunden beschlossen worden – unter „mehr oder weniger sanftem Druck“ auf die Familie. Die saarländische Regierung habe klar gegenüber Frankreich gemacht, dass sie eine Zwangsregelung ablehne, sei aber schlicht übergangen worden.


Hoffmann deutete an, dass Erpressung im Spiel war, wollte aber öffentlich nicht ausführen, wer erpresst wurde. Seine Aussage legt nahe, dass der Deal von Bonn aktiv betrieben wurde, um den politischen Weg für eine Integration der Saar in die BRD zu ebnen – notfalls auf Kosten saarländischer Industrieinteressen.


4. Die Deutung im Abstimmungskampf

Für die Gegner des Saarstatuts, die ein „Nein“ als Votum für die Wiederangliederung an die BRD interpretierten, war der Fall Röchling ein Geschenk:

  • Narrativ: Frankreich enteignet saarländisches Kernvermögen.

  • Emotionale Wirkung: Die Völklinger Hütte galt als Herz der Saarindustrie – ihr Verkauf wurde als Ausverkauf und koloniale Unterdrückung empfunden.

  • Propaganda: Es kursierten Gerüchte, dass französische Investoren den Standort schließen, Arbeitsplätze vernichten und Patente ins Ausland transferieren würden.


Der Zeitungsartikel vom Dezember 1955 – nur zwei Monate nach der Abstimmung – spiegelt diese Stimmung wider: Er glorifiziert die Rolle Röchlings, betont die Bedeutung für das Grenzland und stellt die Verflechtung von Industrie und regionalem Schicksal heraus.


5. Wirtschaftliche Interessen – Patente, Konkurrenz, Standortpolitik

Es gibt deutliche Hinweise, dass hinter der Röchling-Lösung mehr als nur politische Entspannung stand. Bonn und womöglich auch deutsche Konzerne hatten vornehmlich industrielle Interessen:

  • Patente & technisches Know-how: Röchling war führend in Spezialstählen und Produktionsverfahren, die für den internationalen Markt wichtig waren.

    Man erhoffte sich Zugriff auf Röchling-Patente und technische Verfahren

  • Konkurrenzschutz: Ein starkes Saarwerk hätte mit den Stahlgiganten des Ruhrgebiets konkurrieren können. Stilllegung oder Integration in größere westdeutsche Konzerne konnte Bonn als wirtschaftlich nützlich erscheinen.

  • Standortkontrolle: Wer die Saarindustrie kontrollierte, konnte auch die wirtschaftliche Entwicklung der Region lenken – und Abhängigkeiten schaffen.


Tatsächlich wurde die Völklinger Hütte in den Folgejahren in größere Unternehmensstrukturen eingegliedert, verlor ihre unternehmerische Eigenständigkeit und erlebte schrittweise Produktionsrückgänge bis das Werk in Völklingen schließlich stillgelegt wurde.


6. Symbolische Wirkung und Nachwirkungen

Die Röchling-Frage wirkte wie ein Katalysator für Misstrauen gegenüber dem Saarstatut:

  • Kurzfristig: Sie mobilisierte das pro-deutsche Lager und gab dessen Argumenten („Frankreich will uns ausplündern“) eine greifbare, emotionale Grundlage.

  • Mittelfristig: Das „Nein“-Votum vom 23. Oktober 1955 war auch ein Misstrauensvotum gegen die Vorstellung, dass Saarländer ihre Industrie und Souveränität bewahren könnten, wenn das Statut angenommen würde.

  • Langfristig: Die spätere wirtschaftliche Abhängigkeit des Saarlands von Bundesmitteln und die Privatisierung wichtiger Vermögenswerte hat man als Bestätigung genommen, dass das Saarland nicht auf eigenen Beinen hätte stehen können, obwohl man ihm damit vielmehr die Beine abgehackt hat.


Im Abstimmungskampf wurde der Fall Röchling zur Metapher für die Angst, dass unter einem autonomen oder frankreichfreundlichen Saarland deutsche Traditionen, Eigentum und Industrie verschwinden würden. Die pro-deutsche Propaganda hatte damit ein starkes Narrativ: „Heute Röchling, morgen das ganze Saarland.“


Die spätere wirtschaftliche Entwicklung: Stilllegungen, Fusionen, Arbeitsplatzverluste und weitere Befürchtungen traten ein, weil sich die Saarländer von der pro-deutschen Propaganda verführen ließen. Das Gegenteil von dem, was das Volk wollte und ihm versprochen wurde, ist durch das Nein eingetreten.


7. Die Röchling-Frage als Schlüssel zum Verständnis der Saarabstimmung

Der Fall zeigt, wie in einem politisch aufgeheizten Umfeld wirtschaftliche Entscheidungen zur Waffe im Propagandakrieg werden können.

  • Politik: Bonn nutzte wirtschaftlichen Druck, um internationale Verträge abzusichern und die eigene strategische Position zu stärken.

  • Medien: Zeitungen und Flugblätter griffen die Thematik emotionalisiert auf, um politische Stimmungen zu beeinflussen.

  • Industrie: Unternehmensentscheidungen wurden unter geopolitischen Vorzeichen gefällt.


8. Fazit – Was wirklich auf dem Spiel stand

Die Röchling-Frage war kein isolierter Wirtschaftsvorgang. Sie war Symbol, Machtinstrument und politischer Testballon zugleich.

  • Sie beeinflusste direkt das Klima vor der Volksbefragung 1955.

  • Sie offenbarte die Macht Bonns, auch über ein formal autonomes Saarland hinweg zu entscheiden.

  • Sie öffnete die Tür für eine langfristige Neuordnung der Saarwirtschaft unter bundesdeutscher Regie.

  • Für die Bevölkerung war sie ein emotional aufgeladener Beweis für drohenden Ausverkauf – und damit wahlentscheidend.


Heute ist klar: Der Fall Röchling war kein rein wirtschaftliches Ereignis, sondern ein gezielt eingesetztes politisches Instrument, das die Stimmung im Saarland massiv beeinflusste.


Übrigens: Nicht nur die prodeutschen Parteien übten Druck auf Hoffmann aus, sondern auch die SPS, z.B. in ihrem Brief vom 3. Mai 1955. Darin hieß es:

"Die SPS-Landtagsfraktion fühlt sich verpflichtet, an die Erklärung zu erinnern, die Sie am 25. April 1955 im saarländischen Landtag abgegeben haben, worin u.a. folgendes zum Ausdruck kam: Die saarländische Regierung hofft immer noch auf eine  den Grundsätzen des Rechts entsprechende  Regelung, die in jedem Falle den Interessen der saarländischen Bevölkerung insbesondere den in der  Völklinger Hütte tätigen Menschen gerecht werden muss. Es kann kein Zweifel darüber aufkommen, daß die Bonner Vereinbarungen zwischen Bundeskanzler Adenauer und Außenminister Pinay in direkten Widerspruch zu der obigen Erklärung stehen. Wir halten es deshalb für dringend notwendig, daß Sie vor Unterzeichnung der Verträge alles tun, um eine Regelung der Röchling-Frage zu erreichen, die den Interessen des Saarlandes und der Belegschaft der Röchling-Werke vollständig Rechnung trägt."

Dieser Brief zeigt sehr deutlich, in welcher politischen Zwickmühle sich Johannes Hoffmann damals befand und wie sich die Lage für ihn immer weiter zuspitzte. Die SPS war eine prosaarländische Partei, die in vielen Punkten Hoffmanns europäische Ausrichtung und die Autonomielösung teilte.

Dass er aber auch schriftlich von der "eigenen" Seite gedrängt wurde, die „Röchling-Frage“ vor Unterzeichnung der Verträge zu lösen, zeigt, dass Hoffmann von allen Seiten unter Handlungszwang gesetzt wurde.

Zusätzlich zum massiven Dauerfeuer der bundesdeutschen Propaganda sollte er auch überzogene Erwartungen erfüllen, die angesichts der Machtverhältnisse unrealistisch waren.

Zwar stellte die SPS fest, dass sich Bonn über saarländische Interessen hinwegsetzte, jedoch solle Hoffmann schleunigst dafür sorgen, dass am Ende eine für das Saarland günstige Lösung herauskommt.

Die Röchling-Frage wurde von Bonn als Hebel genutzt, um Hoffmann in die Defensive zu drängen und ihn in der öffentlichen Wahrnehmung als jemanden darzustellen, der „die Arbeiter im Stich lässt“ und „seine Versprechen nicht einhält“.

Hoffmann war dadurch in einer klassischen Lose-Lose-Situation:

  • Ging er zu weit auf französische oder europäische Positionen ein, konnte man ihn als „Marionette“ diffamieren.

  • Kämpfte er zu sehr für saarländische Eigeninteressen, riskierte er, die französische Kooperationsbereitschaft zu verlieren.

  • Gleichzeitig erwarteten auch pro-europäische Kräfte wie die SPS, dass er gegen Bonn mehr „durchsetzt“, obwohl Bonn in der Röchling-Frage längst den Ton angab.


Und so wurde einer der integersten deutschen Nachkriegspolitiker innerhalb weniger Monate gebrochen und aufgrund falscher Tatsachenbehauptungen sowie demagogischem Geschick ein NEIN bei der Abstimmung erzwungen.


Quellen:

ree


Wartburgrede, Johannes Hoffmann vom 13. Aug. 1955, Tonaufnahme des SR



 
 
 

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